Achtung: Streng geheim!

Ohne Geheimnisse gäbe es keine Freundschaft, keine Erotik, keine Kultur: Das Geheimnis ist eine der größten Errungenschaften des Menschen. Und doch können wir es nicht für uns behalten. Warum?

 

 

„Pst, schon gehört? Der Andi wechselt die Firma! Aber niemand sagen, ist streng geheim!“ – Ja, ist klar. Und so schnell verbreitet sich ein Gerücht oder etwas, dass wirklich noch hätte geheim bleiben sollen.

 

 

"Versprich mir, dass du mit niemandem darüber redest!" Wenn eine Freundin das von mir verlangt, hoffe ich insgeheim, dass es sich um etwas Spannendes oder richtig Schlimmes handelt. Jedenfalls um etwas absolut nichts Alltagstaugliches. Es klingt fies, aber mein Adrenalinspiegel schießt sofort in die Höhe, besonders wenn ich am Schreibtisch sitze und mal eine Pause brauche. "Natürlich nicht", sage ich sofort, "du kennst mich doch", füge ich hinzu, "also, schieß los."

Und während ich zuhöre, mischen sich in meiner Seele genau zwei Gefühle. Echte tiefe Anteilnahme, wenn es um Krankheit, Schulden, keine Aufträge oder einen Ehemann mit einstelligem IQ geht, der glaubt, am Silikonbusen einer 20-jährigen Russin glücklicher zu sein. Oder Enttäuschung, wenn es weder spannend ist noch schlimm, sondern nur Stress mit der Schwiegermutter. Wenn strikte Geheimhaltung gefordert wird, darf man Brisanteres erwarten, finde ich. Und andererseits denke ich doch immer öfters „Will ich das eigentlich wissen?“ Denn Wissen belastet. Wenn ich so einiges nicht gewusst hätte, würde es sich vielleicht leichter leben.

Aber gut,  ich halte mich an mein Versprechen, weil es in meinen Augen wie ein Gütesiegel ist. Mir wurde ein Geheimnis anvertraut, das eine Freundin mit sonst niemandem teilt. Ich wurde auserwählt, also halte ich mein Plappermaul. Bis eine andere Freundin fragt: "Sag mal, hast du gehört, was bei M. gerade los ist?" Ich schüttele den Kopf und sie: "Ich soll nicht darüber reden, aber wenn du mir versprichst, es für dich zu behalten, dann ..." So höre ich manchmal mehrmals genau die Geschichte, die mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut wurde. Was ich aus Solidarität natürlich nie zugebe, sondern jedes Mal verspreche: "Von mir erfährt niemand etwas." Dabei finde ich es durchaus ein bisschen albern, wenn jemand die Queen in einem hochgeheimen Drama spielt, um die Geschichte dann in alle Welt zu posaunen. Und ehrlich gesagt frage ich mich dann auch, was die Person damit bezweckt? Erzählt sie jedem die ach so tolle Story mit dem Beisatz „Aber du bist die Einzige, der ich es erzähle“ und hofft dann instinktiv, dass es doch rauskommt? Oder glaubt sie tatsächlich, dass Freunde oder Kollegen nicht darüber reden?

Hat es dann etwas mit Ehrlichkeit zu tun, wenn man verneint, dass man nichts davon wusste? Oder hat es mit Loyalität zu tun, dass man zu der Person, die einem etwas sagte, steht?

 

 

Unsere Geheimnisse sind immer von potenziellen Feinden umzingelt. Um sie herum lauern Neugier, Misstrauen, böser Wille und die reine Lust an der Enthüllung, und alle warten nur auf eine Gelegenheit: die halb offene Zimmertür, die unverschlossene Schublade, den USB-Stick in der Jackentasche. Warum sind so viele Menschen hinter Geheimnissen her? Warum brauchen wir sie überhaupt? Oder anders: Was ist das Geheimnis hinter den Geheimnissen?

 

 

Die Konkurrenz zwischen privat und öffentlich, zwischen Nähe und Distanz ist etwas zutiefst Menschliches. Diese Spannung macht uns aus, sie bringt uns weiter – als Individuum, als Gesellschaft und als Spezies. Das Geheimnis ist eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit. Jede Art von Kultur beginnt damit, dass eine Menge von Dingen verschleiert wird. Und wenn man so zurückblickt wird klar, dass wir es relativ früh lernen: von anderen Menschen, aus Märchen, aus Filmen und aus Zeitungen. Wir lernen, dass uns Geheimnisse die Möglichkeit geben, selbst zu bestimmen, welcher Mensch wir für andere Menschen sein wollen. Und welcher eben nicht.

 

 

Bei kleinen Kindern drehen sich Geheimnisse noch eher um Gegenstände, etwa um Teddys unter dem Kopfkissen, um Süßigkeiten oder die Lage von guten Verstecken. Wenn ein Kind aufbricht, die Welt zu erobern, und sich von seinen Eltern zu lösen beginnt, findet es Freunde in Kindergarten und Schule. Dort helfen ihm die Geheimnisse nicht nur, seinen Platz zu finden und Beziehungen zu steuern – ihm wird auch bewusst: geschickt eingesetztes Wissen verleiht Macht.

 

 

Tja, und da wären wir beim Thema Macht. Dann heißt es schnell „Wenn du das tust, erzähl ich jedem dein Geheimnis!“ – und so schnell findet man ein Druckmittel gegen eine Person. Eigentlich sollte ein Geheimnis lehren zu schweigen, sich zu disziplinieren, und nicht das gegen andere auch noch auszunutzen.

 

 

Andererseits sind Geheimnisse aber auch das Bindemittel, das Vertrauen und damit eine Basis schafft. Menschen steuern so den Verlauf der Grenzen, die sie um sich herum ziehen, und wen sie hineinlassen. Geheimnisse sind die Währung der Freundschaft. Oft heißt es auch, man sei nun Teil des inner circles, also der nahen Freunde, weil man etwas weiß, dass sonst niemand weiß. Um etwas geheim zu halten, das uns unangenehm oder für uns gefährlich ist, nutzen wir das Geheimnis wohl am meisten – zum Selbstschutz: Weil wir insgeheim etwas sind oder getan haben, das uns gesellschaftlich ruinieren könnte. Weil unsere private Identität unsere soziale Integrität beschädigen könnte. Wir verbergen etwas, weil wir befürchten, ansonsten nicht mehr gemocht oder respektiert zu werden. Ich bin nicht homosexuell. Ich bin nicht arbeitslos. Ich bin nicht in dieser Straße aufgewachsen. Ich habe kein Aids.

 

 

"Wir könnten nicht mehr sein, wer wir sind, wenn alle wüssten, was wir waren."

 

 

In diesem Sinne, bevor ich hier noch mehr ausschweife, eine Welt ohne Geheimnis wäre, wie Hartmut Böhme schreibt,

" die Wüste der Langeweile. Es wäre der augenblickliche Verlust aller Spannkraft. Es wäre eine Welt ohne Liebe, ohne Eros, ohne den Zauber der Attraktion. Es wäre Terror. Es wäre das Wissen als lückenloses Gefängnis.“

 

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